Hinweis der Angstambulanz am Zürichsee SM Rapperswil - Schwyz - St. Gallen - Zürich zum nachfolgenden Text:
Deutschlands bekanntester Postbote Gert Postel, der sich als Oberarzt in der Psychiatrie verdingte, veröffentlichte 2001 ein Buch über seine Zeit als Hochstapler, das Psychotherapeut rezensierte. Dieser "Arbeitsbericht", den der Postler als Psychiater ablieferte, führt die akademische Sinnleere und die menschliche Inkompetenz vor, die sich in der Psychiatrie und Psychotherapie häufen. Als Leser kann man daraus lernen, dem eigenen gesunden Bauchgefühl und Verstand mehr zu vertrauen als dem gestelzten Geschwätz beim Psychiater und Psychotherapeuten.
"Für die Psychiatrie", so beschrieb der "Postbote mit mittlerer Reife" seine Erfolgsmethode als Psychiater, "brauchen Sie keine Basis, Sie müssen nur die Sprache beherrschen, und dann können Sie das Gegenteil oder das Gegenteil vom Gegenteil beweisen." Auch der weithin bekannte politische Missbrauch der Psychiatrie belegt, dass die Psychiatriepraxis teilweise eher ein Dressurprogramm als eine seriöse Wissenschaft ist.
Der Psychotherapeut hat das Buch des Arzt-Hochstaplers mit Humor analysiert. Die Buchbesprechung mit dem Titel "Mehr Schein als Sein: Psychiatrie" wurde in der Zeitschrift "PSYCHOTHERAPIE" am 10.09.2001 veröffentlicht
Psychotherapie, 10.09.2001
Buchbesprechung
Postel, Gert: Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt
am Main: Verlag Eichborn, 2001. 191 S.
Von
Darf man es bedauern, dass Gert Postel, ein Hochstapler mit Kultstatus,
der sich selbst bezeichnet als "ein Nichts", "ein
ehemaliger Postbote mit mittlerer Reife", die ihm vom sächsischen
Sozialministerium angetragene Chefarztstelle der forensischen Abteilung
des Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Arnsdorf -
dotiert mit einer C4-Professur an der TU Leipzig - nicht angenommen
hatte? Jedenfalls ist der Welt damit eine weitere heiter-böse Bloßstellung
dessen vorenthalten worden, wovon Politik wie Psychiatrie bis zur Stufe
der Unfähigkeit vorzüglich leben: dem schönen Schein.
Schon
sieben Monate nach seiner Einstellung als Oberarzt am Fachkrankenhaus
für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie im sächsischen Zschadraß
wurde der falsche Dr. med. Dr. phil. Gert Uwe Postel, persönlich unterstützt
vom Sozialminister Dr. Hans Geisler (CDU), für diese Chefarzt-Position
vorgeschlagen. Postels fachliche Kompetenz galt als unbestritten. So
befürwortete die sächsische Staatsregierung in einer Kabinettsvorlage
im Juli 1996 die Ernennung des seit den 80-er Jahren als Ärzte-Liebhaber
bundesweit bekannten Schwindlers. "Das Gespräch mit mir",
so schildert Postel im Buch seine vorausgegangene "Audienz beim
Minister", "bestritt der Minister, obwohl es anderthalb
Stunden dauerte, im wesentlichen allein. Er stellte mir seine Ideen
zur Enthospitalisierung vor, denen ich zustimmte, was er offenbar gewohnt
war. Dann ging er dazu über, ziemlich pointenlose Geschichten zu erzählen.
Eine von ihnen ging so: Aus der Unterbringungsanstalt in Arnsdorff ist
einmal ein Kinderschänder ausgebrochen. Da ich dort in der Gegend wohne,
bin ich mit meinem Privatauto zur Anstalt gefahren und habe gesagt,
ich bin der Minister, ich will mir jetzt mal die örtlichen Gegebenheiten
anschauen, wie dieser Kinderschänder hier ausgebrochen ist. Da haben
die an der Anstaltspforte zu mir gesagt: 'Ich bin der Minister, kann
doch jeder sagen.' Sie haben mich nicht reingelassen."
Gert Postel brauchte nicht einmal einen falschen Namen, um erfolgreich
als Psychiater und Psychotherapeut aufzutreten. Doch offenbar hatte
Postel nach einem unbequemen Gespräch mit dem Ärztlichen Leiter Hubert
Heilemann kalte Füße bekommen und von sich aus die Bewerbung zurückgezogen.
Höhepunkt dieser Groteske war die Rüge, die Heilemann vom Sächsischen
Staatsministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie erhielt:
Mit seinen Fragen habe er den Erfolg versprechenden Aspiranten vergrault.
Derselbe Minister schaute unlängst zu, wie ein Kinderschänder, der nach
einem Bericht der "Bild"-Zeitung eine Elfjährige vergewaltigt
und erdrosselt hatte, und eine Doppelmörderin als verurteiltes "Mörderpärchen"
im sächsischen Maßregelvollzug zur Förderung ihres Liebeslebens in eine
gemeinsame Zelle mit der Pille auf Staatskosten zusammengelegt wurden
und approbierte Psychotherapeuten für nicht-genehmigungspflichtige Psychotherapie
bei Versicherten der Primärkrankenkassen Ende 2000 keinen Pfennig erhielten.
Postel indes strich während seiner Oberarzt-Einlage in Sachsen über
200.000 Mark an Gehalt ein. Honorare in Höhe von knapp 44.000 Mark,
die er für psychiatrische Gutachten in 23 Strafverfahren kassierte,
für die er als Gerichtsgutachter bestellt wurde, wird er hingegen behalten
dürfen. Das sächsische Justizministerium habe zwar eine Rückforderung
geprüft, aber kein Verfahren eingeleitet, weil eine Chance, das Geld
einzuklagen, nur bestünde, wenn die Fehlerhaftigkeit der Gutachten nachgewiesen
werde. Von den Gerichten war jedoch keine einzige der Expertisen zurückgewiesen
oder angefochten worden.
Als gelernter Briefträger gilt die Leidenschaft des Gert Postel dem
Arztberuf, den er ohne Medizinstudium jahrelang ausgeübt hat. Vom September
1982 bis April 1983 war Gert Postel unter dem Namen Dr. Dr. Clemens
Bartholdy als stellvertretender Amtsarzt in Flensburg bemerkenswert
erfolgreich. Er reformierte die Einweisungspraxis in psychiatrische
Kliniken, leitete den sozialpsychiatrischen Dienst, war amtlich bestellter
Hafenarzt und Leichenbeschauer. Unter seiner Leitung und Aufsicht sank
die Zahl der Zwangseinweisungen um 86 Prozent. Wurde Beschwerde gegen
seine Entscheidung eingelegt, so bestätigte das Landgericht seinen Befund.
Daneben schrieb er Gutachten und hielt sogar Vorträge vor Fachkollegen.
Weil ihn die Arbeit jedoch anstrengte, bewarb er sich fort. Als Arzt,
versteht sich. Aufgedeckt wurde der Schwindel, nachdem Postel das Portemonnaie
verloren hatte, in dem sich seine Ausweise befanden: einer war auf seinen
richtigen Namen ausgestellt, der andere auf den Namen Clemens Bartholdy.
Im Dezember 1984 wurde Gert Postel als falscher Arzt in Schleswig-Holstein
wegen Missbrauchs akademischer Titel, Betruges und Urkundenfälschung
vom Landgericht Flensburg zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, ausgesetzt
auf Bewährung. Die Strafe sei so milde, hieß es in der Urteilsbegründung,
weil es ihm die Gesundheitsbehörden so leicht gemacht hätten und er
keinen Schaden angerichtet habe.
Seiner Karriere tat das indes
keinen Abbruch. Zuletzt ab 1995 anderthalb Jahre als Psychiatrie-Oberarzt
des Sächsischen Krankenhauses in Zschadraß - und Vorgesetzter von 28
Ärzten. Die Zeitung "DIE WELT" zitierte seinen ehemaligen
Chef in Zschadraß, Horst Krömker, am 20. Januar 1999 mit den Worten: "Der
Mann hat mich sofort überzeugt. Sein Auftreten, seine Referenzen. Ich
dachte, einen besseren Arzt können wir nicht kriegen." Auch
dieser Schwindel flog nicht etwa durch ärztliches Unvermögen des Postlers
Postel auf, sondern weil eine Ärztin des Krankenhauses Zschadraß Besuch
von ihren Eltern aus Flensburg erhielt. Irgendwie kam das Gespräch auf
den Oberarzt Postel. Die Eltern kannten diesen Namen. Kurz darauf war
der gelernte Postbote enttarnt. Am 10. Juli 1997 tauchte Postel unter.
Eine Leipziger Staatsanwältin, mit der Postel eine Affäre gehabt haben
soll, stand im Verdacht, ihn vor der Verhaftung gewarnt zu haben. Zehn
Monate entkam der Hochstapler immer wieder den Ermittlern der Kripo,
auch unter Mithilfe einer Stuttgarter Richterin, einer weiteren Affäre.
Bis ihn Zielfahnder am 12. Mai 1998 in einer Telefonzelle am Stuttgarter
Hauptbahnhof schnappten. Am 20. Januar 1999 begann sein Prozess vor
der Großen Strafkammer am Landgericht Leipzig, für den "so ungefähr
alles aufgeboten [wurde], was gut und teuer ist". Urteil:
Vier Jahre Haft.
Anfang dieses Jahres wurde er vorzeitig auf
Bewährung entlassen und meldet sich prompt wieder mit seinem nächsten
Coup: Das Buch "Doktorspiele", aus dem er zum Verkaufsstart
am 4. September 2001 im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße
las. In seiner knapp 200-seitigen Hochstapler-Biografie beschreibt der
gelernte Briefträger, wie leicht es ihm Würdenträger, Ministeriale und
Akademiker gemacht haben. "Ich gestehe und bereue ganz allgemein",
schreibt Postel zu Beginn seines Buches. Ob er von seiner verzerrten
Realitätswahrnehmung geheilt ist, bezweifelt Postel alias Dr. Gert von
Berg allerdings im Vorwort selbst.
Einst brauchte es feine Kleider,
eine elegante Kutsche oder gar livrierte Diener, um die Kluft zwischen
Sein und Schein zu überwinden. Heute reichen wenige Groschen und eine
sympathische Stimme aus, um am Telefon Lügengebilde zu inszenieren.
Die nötige Portion Raffinesse gepaart mit Witz, Chuzpe und einem Quäntchen
Menschenkenntnis machen aus einem Arbeiter einen Akademiker, so wie
aus dem Postschaffner Postel einen Dr. med. Dr. phil. Gert Uwe Postel.
Nicht ohne gehörige Selbstironie berichtet Postel in dem Kapitel "Wie
ich das Land Sachsen vor großem Schaden bewahrte", auf welche
Weise er Ostern 1996 "das Richtige tat und auch noch gut verkaufte".
Während sein Chef - im Buch "Dr. Gutfreund" genannt
- "seinen wohlverdienten Osterurlaub angetreten" hatte,
war Postel als sein Oberarzt "in Zschadraß zurückgeblieben und
trug nun während des Auferstehungsfestes die alleinige Verantwortung
- auch für den Maßregelvollzug, also jenen Teil der psychiatrischen
Klinik, in dem psychisch kranke Straftäter untergebracht waren. Von
dort wurde mir hintertragen, daß einige Insassen planten, in der Zeit
zwischen dem höchsten protestantischen Feiertag - Karfreitag - und dem
höchsten katholischen - Ostersonntag - gemeinsam auszubrechen. Nicht
auszudenken, was einige Triebtäter im Verein mit schizophrenen Mördern
außerhalb der Anstalt für ein Unheil hätten anrichten können. Schnelles
und entschlossenes Handeln tat not. Ich beschloß, die Verschwörung zu
zerschlagen, die Anführer zu trennen und zu isolieren. Meine Freunde
vom Landeskriminalamt schickten mir, nachdem ich das Justiz- und das
Sozialministerium per Telefax auf die Gefahrenlage hingewiesen hatte,
ein Sondereinsatzkommando, das die verdatterten Konspirateure handstreichartig
in Gewahrsam nahm und auf andere, sichere Anstalten des Freistaates
Sachsen verteilte. Als meine Förderer aus dem Sozialministerium am Dienstag
nach Ostern ihren Dienst wieder antraten, lag ihnen bereits mein Bericht
vor, in dem ich sachlich, aber nicht ohne Sinn für Dramatik schilderte,
wie ich während der Feiertage dieser furchtbaren Gefahr für Sachsen
begegnet war."
"Nun muß man wissen",
beginnt Postel seine Analyse ministerialen Denkens, "daß es
für die politisch Verantwortlichen nichts Unangenehmeres gibt, als wenn
verrückte Kriminelle unerlaubt eine Anstalt verlassen und die Bevölkerung,
darob in Angst und Schrecken versetzt, nach einem Schuldigen sucht.
Es gehört also wenig Phantasie dazu sich vorzustellen, welch wohliger
Schauer meine Ministerialen bei dem Gedanken überkam, durch mich von
einem Unheil bewahrt worden zu sein, das leicht ohne die Wachsamkeit
dieses wunderbar tatkräftigen Oberarztes zu fürchterlichen Zornesausbrüchen
ihres gottähnlichen Ministers geführt hätte. 'Solche Männer braucht
das Land', werden einige Herren im Ministerium gedacht haben, denn anders
läßt sich nicht erklären, was mir einige Tage später von dort widerfuhr."
"Drei Tage nach Ostern wurde ich zu einer 'Nachbesprechung'
ins Ministerium bestellt, der ich nichtsahnend Folge leistete. Ich vermutete,
daß man anhand der Osterereignisse noch einmal über Sicherheitsfragen
im Maßregelvollzug sprechen wollte. Im Ministerium waren meine österlichen
Heldentaten jedoch nur noch ein Nebenthema.
Der zuständige Referent
schlug mir nämlich überraschend vor, die Nachfolge von Prof. Dr. K.
als Chefarzt in Arnsdorff anzutreten. Ich war vollkommen sprachlos,
suchte nach Worten. Allein der Gedanke, Nachfolger von Prof. Dr. K.,
dem einzigen, ungebrochenen Schüler des großen Rasch, zu werden, erschütterte
mich. Einen Moment überlegte ich, ob die Ministerialen vielleicht inzwischen
meinen wahren Bildungsgang herausbekommen hatten und mich einfach noch
einmal richtig foppen wollten, bevor sie mich dem Staatsanwalt übergaben.
Aber mir blieb keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen., denn der
Referent schaute auf seine Uhr und sagte, daß wir uns jetzt in den Besprechungsraum
begeben müßten. Halb bewußtlos trottete ich hinter ihm her, ich, der
Betrüger, der Täuscher, der Einfädler, unwillkürlich ein hilfloses Objekt
der Machenschaften der Ministerialbürokratie."
So verleitete
das sächsische Sozialministerium den Hochstapler, wie Postel süffiziant
feststellt, "um ein Haar zu einer weiteren Betrugstat"
[...]. "Da Landau mich wegen der Übernahme der Arnsdorffer Stelle
regelrecht bekniete, erwachte meine alte Frechheit, und ich sagte, daß
ich dann schon fast lieber ins Ministerium gehen würde. Landau, der
gewiefte bürokratische Fuchs, parierte meine Unbescheidenheit geschmeidig:
'Wissen Sie, Dr. Postel, eigentlich hatten wir uns Arnsdorff als eine
Vorstufe für eine Referentenstelle im Ministerium gedacht. Wenn Sie
sich dort bewähren, dann ist ein späteres Überwechseln ins Ministerium
die natürliche Folge.'"
Das Buch des am 18. Juni 1958
in Bremen geborenen Gert Postel zeichnet höchst ironisch den verwinkelten
Lebensentwurf eines Hochstaplers nach, der mit gefälschten Papieren,
menschlichem Einfühlungsvermögen und erstaunlichen rhetorischen Fähigkeiten
seine Vorstellungen von akademischen Weihen und gesellschaftlicher Anerkennung
verwirklichen wollte. Gleichzeitig, so heißt es im Klappentext, ist
das Buch eine "doppelbödige Hommage" an seine Umgebung:
an Anwälte, Politiker, Mediziner, Psychotherapeuten, Richter, Freundinnen,
kurz: an alle, die die unglaubliche Karriere des Dr. Gert Postel erst
ermöglicht haben.
Der falsche Oberarzt und Beinahe-Chefarzt für forensische Psychiatrie
reißt Psychiatern und Psychotherapeuten die Maske kundiger Heiler herunter.
Postels unterhaltsame Köpenickiade lässt hinter der Fassade des vermeintlichen
Expertentums und vorgeblicher Wissenschaftlichkeit ein weiteres Mal
hervorquellen, was Psychiater und Psychotherapeuten gern verbergen:
Gerade in ihrem Berufsstand findet sich gehäuft neurotisch bedingtes
Unvermögen, realitätsferne Gefühlsduselei, spirituelle Phantasterei,
pseudowissenschaftlicher Größenwahn und selbstverliebtes Machtstreben.
Postel "interessierte vor allem der Macht- und Herrschaftsaspekt"
an seiner Position: "Wie stark dieses Interesse war, mögen Sie
daran ersehen, daß ich während der Zeit in Zschadraß - mit wenigen Ausnahmen
- absolut klösterlich gelebt habe, obwohl ich ansonsten ein einigermaßen
gesundes Geschlechtsleben führe. Mein Zölibat in Zschadraß ist ein Indikator
dafür, daß mir die Existenz als Oberarzt in dieser Klinik als Befriedigung
jedweder Triebe vollkommen ausreichte.
Ich bewohnte in der Klinik
ein bescheidenes Arztzimmer, in dem ich mir Frühstück und Abendessen
selbst zubereitete. Nachdem ich morgens meine Morgentoilette absolviert
hatte, warf ich meinen Oberarztkittel über, schlenderte durch einige
Abteilungen, beobachtete die hastig aufgenommenen Aktivitäten des Pflegepersonals,
wurde gegrüßt, grüßte leutselig zurück und erreichte schließlich den
Klinikkiosk, wo eine eigens zurückgelegte FAZ auf mich wartete, trat
den Rückweg an und ließ mich bei einer Tasse Tee in einem Sessel meines
Zimmers nieder, um mein Leib- und Magenblatt ausgiebig zu studieren,
selbstverständlich im weißen Kittel. Hatte ich die Zeitung durch, schloß
sich manchmal noch eine halbe Stunde Schopenhauer-Lektüre an, bis ich
dann zur Oberarztvisite antreten durfte. Ich sage bewußt 'durfte', denn
der Dienst in Zschadraß war für mich ein Vergnügen, die damit verbundene
Ausübung von Herrschaft ein Genuß."
Wer den fast unglaublichen
Erfahrungsbericht des Gert Postel nur für böswillige Übertreibung eines
persönlichkeitsgestörten Narzissten hält, hat die teilweise menschenverachtende
Realität im deutschen Psychiatrie- und Psychotherapiebetrieb nicht kennen
gelernt.
Ein illustratives und gleichwohl beliebig austauschbares
Beispiel eines vermutlich selbst schwer gestörten Experten bot der Facharzt
für Psychotherapeutische Medizin Michael Gross aus Freiburg im Breisgau.
Der Psychotherapie-Arzt, dessen Approbation es ihm per Gesetz erlaubt,
über die psychische Gesundheit anderer zu befinden, offenbarte sein
eigenes verzerrtes Weltbild in einem Leserbrief mit dem selbst gewählten
Titel "Totalschaden" und der Forderung, die Redaktion
der Zeitschrift PSYCHOTHERAPIE in lebenslange Sicherungsverwahrung
zu stecken: Die kritisch-sachbezogene und wissenschaftlich fundierte
Aufklärung in PSYCHOTHERAPIE attackierte der Arzt und Psychotherapeut
Michael Gross neben weiteren Verbalinjurien mit den Worten, "Aufmachung
und Inhalt scheinen [...] von Leuten verbrochen, die aufgrund
eines ausgeprägten Dachschadens auf Dauer weggeschlossen gehören".
Verständlich, dass es angesichts dieser Realität nicht immer leicht
fällt zu beurteilen, wer tatsächlich verrückt ist, Klient oder Therapeut. "Ein
geschickter Therapeut hat keine Schwierigkeit, über mich ein Gutachten
zu erstellen, das mich als therapiebedürftig qualifiziert",
kritisierte Ellis Huber am 21. August 2001 im Interview mit PSYCHOTHERAPIE
den regelhaften Missbrauch, den Psychotherapeuten und Psychiater in
und mit ihrem Beruf betreiben. Huber, von 1987 bis 1999 Präsident der
Berliner Ärztekammer und heute Vorstand der Securvita BKK, sagte: "Etwa
ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte sind zynische Egoisten, denen das
Schicksal ihrer Patienten völlig egal geworden ist. Sie denken nur an
sich und machen Therapien, deren Unsinn sie von vornherein bereits kennen.
Ein weiteres Drittel umfasst frustrierte und prinzipienlose Opportunisten,
die im System mitschwimmen und versuchen, einigermaßen über die Runden
zu kommen und das schlechte Gewissen durch Freude an Status und Ansehen
zu kompensieren."
Diagnose "Totalschaden"
- doch bei wen? Vor dem Hintergrund reichlich verrückter Psychiater
und Psychotherapeuten verwundert es wenig, wenn ein charmanter und eloquenter
Postbote sich als angenehm normal von den Vertretern der Psycho-Zunft
abhebt und in der Psychiatrie steile Karriere macht.
Sein Job als Briefträger wurde Postel schnell zu langweilig, zu anspruchslos.
Sein Bubenstück ist ein gefälschtes Abiturzeugnis, mit dem er sich eine
Ausbildung zum Rechtspfleger ergaunern will. Da er kein Abitur hatte,
fälschte er sich eben eins, und bekam damit 1977 eine Ausbildungsstelle
als Rechtspfleger-Anwärter in Bremen. Der Traum platzte jedoch nach
wenigen Monaten. Sodann versuchte es Postel mit einem Studium der katholischen
Theologie in Münster. Später schüttelte er dem Papst Johannes Paul II.
eifrig die Hand bei einer Audienz, die Jesuiten in Frankfurt am Main
zwischen dem Kirchenoberhaupt und dem angeblichen Theologiestudenten
Postel vermittelt hatten.
Die Verurteilung wegen Urkundenfälschung
und unbefugter Titelführung schreckten den damals 19 Jahre alten Mann
nach eigenen Angaben nicht ab. Immer wieder biegt er sich in den folgenden
Jahren seinen Lebenslauf zurecht, macht den Vater zum Theologieprofessor,
die Mutter zum Mannequin und sich selbst zum Assistenzarzt.
Nach dem Selbstmord seiner Mutter im Jahr 1979 sei er auf die schiefe
Bahn geraten, hatte er in einem früheren Prozess ausgesagt. Gert Postel
beginnt Vorlesungen zu Psychologie und Soziologie an der Uni Bremen
zu besuchen. Er liest Fachbücher und saugt den Fachjargon regelrecht
in sich hinein: "Wer die Dialektik beherrscht und die psychiatrische
Sprache, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in
das Gewand des Akademischen stecken", schreibt er später in
seinem Buch "Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy".
Den ersten Versuch unternimmt Postel in Neuenkirchen bei Oldenburg,
wo er sich mit einer gefälschten Approbationsurkunde vorstellt - und
prompt seinen ersten Arztjob erhält. Er betätigte sich als praktizierender
Arzt, wohl auch, weil bei der Einstellung von Ärzten gemeinhin kein
polizeiliches Führungszeugnis verlangt wird. Ein Vierteljahr später
wechselt Dr. Postel auf die Stelle eines leitenden Arztes im Rehabilitationszentrum
beim Berufsbildungswerk des Reichsbundes in Bremen. Doch der Betrug
flog nach vier Wochen auf, als eine Richterin den ehemaligen Rechtspfleger-Anwärter
erkennt.
So foppte er als falscher Doktor seit Anfang der 80er
Jahre die Behörden. Während Postel in Flensburg als Dr. Dr. Clemens
Bartholdy bereits den Amtsarzt spielte, wurde die Bremer "Arzttätigkeit"
im November 1982 gegen eine Geldbuße von 600 Mark zu den Akten gelegt.
Seine Tätigkeit als Amtsarzt war der erste Höhepunkt seiner
Karriere, die ihn bundesweit bekannt machte. Doch die einjährige Bewährungsstrafe,
zu der ihn 1984 das Flensburger Landgericht verurteilte, hinderte ihn
nicht, munter weiter zu schummeln. Nebenher brachte er 1985 ein 160-seitiges
Buch mit seinen Lebens- und Lügengeschichten auf den Markt.
Sein
Hang zum Arztkittel ließ ihn danach unter anderem als Stabsarzt bei
der Bundeswehr und als Begutachtungsarzt für die Erstellung von Rentengutachten
im Berufsförderungswerk Berlin-Brandenburg arbeiten. Und auch bei der
Landesversicherungsanstalt Stuttgart war er beschäftigt.
Mitten
in seinem aufregenden Arztleben befiel Postel 1993 eine Depression,
deretwegen er sich in der Berliner Charite behandeln ließ. Die offenbar
erfolgreiche Psychotherapie führte ihn schon bald in die Psychiatrie.
Sechs Jahre nach dem Fall der Mauer gelang ihm sein Meisterstück als
falscher Oberarzt von Zschadraß. Postel, der Anfang 1995 noch Katholische
Theologie in München studiert, gibt sich als Prof. Gert von Berg von
der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster aus. Vom Studentenwohnheim
aus ruft er beim Chef des Sächsischen Krankenhauses an und erzählt dem
Herrn Kollegen von einem "ausnehmend tüchtigen Funktionsoberarzt,
Dr. Postel mit Namen, der gerade auf sozialpsychiatrischem Gebiet recht
versiert ist".
Wenige Monate später, im November 1995,
wird Gert Postel, Sohn eines Bremer Kfz-Handwerkers und einer Schneiderin,
Oberarzt auf dem "Leipziger Zauberberg", wie er die
Klinik nennt. Trotz des üppigen Salärs von rund 10.000 Mark habe er
wenig geleistet, nette Gespräche mit seinen Vorgesetzen geführt und
viel intrigiert. Das ist sein Verständnis von "Aufbauhilfe Ost",
lehrt er den Leser. Er verhandelte mit dem Dresdner Sozialministerium
um Leitungspositionen und verfasste psychiatrische Gutachten für sächsische
Schwurgerichte. Er stellte Ärzte ein und feuerte sie wieder, wenn sie
ihm fachlich oder menschlich ungeeignet erschienen. "Das war
kein Problem", sagte er, "ich verlängerte einfach die
auf ein Jahr befristeten Verträge nicht, wenn mir einer nicht passte."
Weil er meist seine Kollegen zu Rate zieht und Gerichtsgutachten immer
nach einer Vorlage verfasst, fällt sein fast zweijähriges Wirken nicht
auf.
Als eine Krankenhaus-Mitarbeiterin aus Norddeutschland den
Postschaffner im weißen Kittel entlarvt, beginnt das Katz-und-Maus-Spiel,
bei dem der Mann mit mittlerer Reife hochrangige Beamte fast ein Jahr
lang vorführt. Ähnlich wie Kaufhaus-Erpresser Arno Funke alias "Dagobert"
ist er ihnen ganz nah, aber immer eine Länge voraus. Als die Sonderermittler
der Polizei vor seiner Wohnungstür in Berlin stehen, führt er sie erneut
in die Irre. "Lieber Peter, ich bin heute nach Bremen gefahren
[...]. Gruß Gert", schreibt er auf einen Zettel und legt
ihn unter die Fußmatte. Die Beamten lesen die Nachricht, machen sich
nicht einmal die Mühe zu klingeln, obwohl Postel hinter der Wohnungstür
steht.
Rückblickend schreibt Postel dazu: "Anstatt nun
Gott in einem stillen Gebet für die glückliche Rettung zu danken und
einfach meiner Wege zu gehen, rief ich, es muss mich ein Teufel geritten
haben, meinen Staatsanwalt in Leipzig von einer nahe gelegenen Telefonzelle
aus an und beklagte mich darüber, dass sich seine Hilfsbeamten schon
zu so früher Stunde an meiner Haus- und Wohnungstür zu schaffen gemacht
hätten."
Wie dem Baulöwen Jürgen W. Schneider, so hat es auch Gert Postel
im Laufe seiner kriminellen Karriere immer weniger Mühe gekostet, die
hohen Herren zu täuschen. Einmal in den Kreis der Akademiker aufgenommen,
fragt keiner mehr nach dem Wie und Warum.
Zum Berufsbild des
Psychiaters meinte Postel in der Diskussion nach der Berliner Lesung
nur abfällig: "Auch eine dressierte Ziege kann Psychiatrie ausüben."
In der Psychiatrie hätte es schon "sehr seltsame" Personen
unter den Ärzten gegeben, erinnert sich der Ex-Oberarzt: "Einer
stellte die Diagnose für einen Patienten, ohne mir die Symptome nennen
zu können. Da verliert man jeden Respekt, ich habe die Ärzte alle verachtet."
An seine Zeit im Knast erinnert sich der selbst ernannte Doktor
hingegen gern: "Die war gut, die möchte ich genauso wenig missen
wie meine Zeit als Arzt. In Freiheit hätte ich es nie geschafft, fünf
Bände Schopenhauer durchzuarbeiten." Für die Zukunft wünscht
sich Postel, "klüger zu werden, mehr zu begreifen".
Er will zwei weitere Bücher verfassen, eins zur Entstehungsgeschichte
von Doktorspielen und einen Gedichtband.
Bis an sein Lebensende
als falscher Arzt im psychiatrischen Krankenhaus im sächsischen Zschadraß
zu arbeiten, das wiederum hätte Gert Postel sich nicht vorstellen können. "Diese
Tätigkeit hätte mich auf Dauer intellektuell unterfordert",
erklärte der ehemalige Postbote auf einer weiteren Lesung aus seinem
Buch in Leipzig am 6. September 2001. "Ich wollte, dass sich
das Buch abhebt von der üblichen Verbrecherliteratur eines Dagobert
oder Dr. Schneider und habe mich um ironische Distanz bemüht",
rühmt sich der Autor in der anschließenden Fragestunde, wie die "Leipziger
Volkszeitung" am 7. September 2001 berichtete. Freundlichen Bitten
um Auskunft komme er gern nach. "Für die Psychiatrie",
so habe er seine Erfolgsmethode beschrieben, "brauchen Sie keine
Basis, Sie müssen nur die Sprache beherrschen, und dann können Sie das
Gegenteil oder das Gegenteil vom Gegenteil beweisen."
Seine Oberarztkarriere in Sachsen sei für ihn keineswegs die einzige
Möglichkeit des Aufstiegs gewesen, erläuterte Postel. "Ich habe
auch ernsthaft darüber nachgedacht, als Präsident eines Gerichts in
den Osten zu gehen, das hätte genauso funktioniert", habe er
sich überzeugt gezeigt. Doch nun, so behauptete der 43-Jährige, wolle
er spazieren gehen, Pfeife rauchen, Schopenhauer lesen und straffrei
leben. Mit der Hochstapelei solle jetzt Schluss sein. "Man kann
sich nicht zum eigenen Plattenspieler machen", gibt die "Leipziger
Volkszeitung" seine Selbstdarstellung wider und schildert, wie
Postel sich eine Rose reichen und strahlend von Besuchern als Enthüller
psychiatrischer Missstände feiern lässt. "Ich bewundere Sie
mehr, als dass ich Sie verurteile", zitierte die Zeitung den
an der Lesung teilnehmenden Wolfgang Ende vom psychiatrischen Krankenhaus
Hochweitzschen (Döbeln) mit der Erklärung, der Fall des Hochstaplers
habe viele Psychiater nachdenklich gemacht. "Ich weiß auch,
dass Sie Patienten keinen Schaden zugefügt haben", erklärte
der echte Oberarzt Wolfgang Ende. Und Postel konterte bissig: "Ich
bin ja auch kein Psychiater."
Seine Strafe hat Postel
verbüßt, doch sein Image als Hochstapler bleibt ihm - und er scheint
es zu genießen. So fällt es dem Wiederholungstäter in seinem jetzt veröffentlichen
Buch nicht schwer, sich selbst ein Psychogramm auszustellen, gezeichnet
Dr. Gert von Berg, das Pseudonym aus alten Verbrechertagen. Dass er
heute ein Restaurant betreibt, in dem die feine Gesellschaft von Leipzig
speist, und zudem Hauptaktionär einer psychiatrischen Privatklinik ist,
bleibt - vorerst zumindest - ein unerfüllter Traum.