Hinweis der Angstambulanz am Zürichsee SM Rapperswil - Schwyz - St. Gallen - Zürich zum nachfolgenden Text:
Für ein Themenheft über das Phänomen "Volkssport Seitensprung" fragte Stefanie Hellge von der Redaktion des Monatsmagazins "MAX" im Sommer 2001 um ein Interview mit Psychotherapeut und Paartherapeut in der Angstambulanz im Institut für kognitive Psychotherapie und Verhaltenstherapie in Stuttgart an.
Bei dem Gedanken an Seitensprung und Fremdgehen hat man nicht zwingend die Assoziation von Angst und Angstambulanz. Dennoch sind Seitensprung und Fremdgehen ein zuverlässiges Rezept, eine recht zerstörerische Angst zu erzeugen: Nach der schnellen Lust folgt die Angst vor der Entdeckung, nach der Entdeckung der dauerhafte Verlust des Vertrauens und dann die quälende Angst vor der Wiederholung beim Opfer und die Angst vor dem bleibenden Misstrauen beim Täter. Die Erschütterung durch den Seitensprung, das Fremdgehen und die Untreue kann eine Paarbeziehung auf Dauer zerstören, wenn das Paar mit dieser Herausforderung nicht konstruktiv umzugehen vermag und seine Beziehung von Angst und Misstrauen von innen heraus zerfressen wird.
So hat Psychotherapeut die Einladung zum Interview über den Volkssport Seitensprung gern angenommen. Das Interview wurde unter dem Titel "Vertrauen ist das Fundament der Partnerschaft", der von zum Thema explizit vertretenen Position, in dem am 26.07.2001 erschienen Heft 16/2001 von "MAX", Seite 32, veröffentlicht.
MAX, 26.07.2001 (16/2001) Seite 32
Von Von Stefanie Hellge
Boris Becker ist nicht allein. Die meisten von uns nehmen es mit
der Treue nicht so genau. FREMDGEHEN ist für viele ein Kavaliersdelikt.
Kaum einer rechnet mit einem Skandal und der privaten Katastrophe —
man lässt sich einfach nicht erwischen...
Es ist Punkt 12.15
Uhr, Mittagspause bis 14.30 Uhr, und Martin, der seinen Wagen in der
Tiefgarage geparkt hat und jetzt mit schnellen Schritten die Hotelhalle
durchquert, wird von der freundlichen Empfangsdame bereits erwartet. "Schön,
Sie wieder begrüßen zu dürfen", lächelt sie. "Ihre Gattin
ist bereits auf dem Zimmer. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt." – "Danke",
sagt Martin, "den werd’ ich sicher haben."
Die
Gattin hat inzwischen geduscht und den Champagner kaltgestellt. Als
er klopft, öffnet sie die Tür, wie er es erwartet – nackt, lächelnd,
bereit. Es geht sofort zur Sache. Um 14.10 Uhr rollt er sich von ihrem
lustvoll verschwitzten Körper, küsst seine Lieblingsstelle, das kleine
Grübchen, da, wo ihr Rücken in den Po übergeht. Ciao, mein Schatz, bis
nächste Woche...
Interview mit , Psychotherapeut und Paartherapeut
am Institut für Psychotherapie in Stuttgart:
Stefanie
Hellge: Viele Psychotherapeuten sehen in einem Seitensprung ein eindeutiges
Indiz für ein Problem in der bestehenden Partnerschaft. Welche Probleme
sind das in der Regel?
: In die Partnerschaft
tritt ein Paar mit Beziehungskonzepten ein, die sehr verschieden sein
können. Jeder Partner bringt seine in der individuellen Lerngeschichte
erworbenen Erfahrungen, Erwartungen und Kompetenzen in Bezug auf eine
enge menschliche und sexuelle Beziehung mit. Wo die Liebe hinfällt,
wird indes zunächst nicht die naturgemäße Unvollkommenheit des anderen
gesehen, sondern der Partner wird anhand einzelner Eigenschaften idealisiert.
Im alltäglichen Zusammenleben weicht die anfängliche Verliebtheit einer
zunehmenden Vertrautheit. Dann treten auch die Schwächen deutlich hervor.
Die des anderen ebenso wie die eigenen. Für Schwächen und Fehler haben
die meisten Menschen seit ihrer Kindheit Abwertung erfahren. Beginnt
ein Partner nun die Schwächen des anderen anzusprechen und auf Veränderung
zu drängen, so reagieren viele wieder wie früher - tief verletzt. Deshalb
vermeiden viele Menschen auch in der Partnerschaft, sich mit ihren Schwächen
auseinander zu setzen und Fehler als Chance zur gemeinsamen Entwicklung
zu begreifen. Sie haben nicht gelernt, durch offene und konstruktive
Gespräche ihre Bedürfnisse mitzuteilen und durch beständige gemeinsame
Arbeit an sich selbst ihre unterschiedlichen Beziehungskonzepte zusammenzuführen.
Begegnet ein über die Unzulänglichkeiten seiner Beziehung frustrierter
Mensch in diesem Moment einem anderen, der genau das zu haben scheint,
was er bei dem eigenen Partner vermisst, so erscheint der Seitensprung
eine einfache und bequeme Lösung. Das eigene Beziehungskonzept kann
scheinbar ohne Veränderung aufrecht erhalten werden.
Sie betrachten
den Seitensprung als eine Folge mangelhafter Kommunikation und fehlender
Beziehungsarbeit?
: Ja, das sind mehrheitlich die
Gründe, an denen Paare scheitern. Aber ein Kommunikationsstil, der wechselseitige
Anerkennung, respektvolle Aufrichtigkeit und tiefe Zuneigung praktiziert
und dem Partner das eigene Erleben, Befinden und Fühlen transparent
macht, lässt sich lernen. Oft werden jedoch Interaktionsmuster und Kommunikationsstile
aus der Ich-Gesellschaft in die Paarbeziehung übertragen und zerstören
die Grundlagen von Nähe, Geborgenheit und Rückhalt, die mit der Partnerschaft
verknüpft werden. Paare, die scheitern, haben häufig übersehen, dass
eine erfolgreiche Partnerschaft davon lebt, kein Wettbewerb der Egoisten
zu sein, sondern in den Stürmen des Lebens vielmehr Halt und Wärme zu
geben. Die Liebe ist deshalb das einzige Gut, das wächst, wenn man es
verschwendet. Die grenzenlose Gier der modernen Gesellschaft nach Genuss
erweckt leicht den Eindruck, Treue und Beständigkeit der monogamen Beziehung
taugten lediglich als Entschuldigung der Einfältigen. Das Gegenteil
ist richtig: Immer mehr Menschen sind in ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit
sehr einsam. Wer sexuelle Highlights will und den Partner für seine
Bedürfnisse gewinnt, mit dem bereits eine tragfähige und bewährte Beziehung
verbindet, hat langfristig die besseren Chancen, glücklich zu sein,
als nach dem Seitensprung von vorn anzufangen. Eine innige und befriedigende
Paarbeziehung ist ein durch beständige Beziehungsarbeit erworbenes großes
Glück.
Gibt es auch Seitensprünge, die einfach passieren und
mit der bestehenden Partnerschaft nichts zu tun haben?
:
Durchaus. Das ist der Konflikt zwischen den Ansprüchen einer Hochkultur
und den realen Individuen, deren Verhalten noch oft durch einfachste
Schlüsselreize hormonal gesteuert wird. Davon lebt nicht nur die Werbung
mit dem Prinzip "Sex sells". Wir haben zur Kenntnis zu nehmen,
dass unsere kurze Kulturzeit nicht immer Millionen Jahre biologische
Entwicklung kompensieren kann, die Männer und Frauen lustbetont gleichermaßen
orientierte, möglichst viele Nachkommen zu zeugen. So unterschätzen
sie im Bereich Sex ihre Anfälligkeit, nach biologisch vorgegebenen Verhaltensmustern
zu reagieren. Die Psychoanalytiker, die regelhaft ihre Patientinnen
sexuell missbrauchen, belegen diese Diskrepanz zwischen dem Schein und
der Wirklichkeit in ihrer unerfreulichsten Form. Diese Mechanik ist
mit dem derben Satz gemeint: Wenn der Schwanz steht, schaltet das Hirn
ab.
Kann man unterscheiden in "gute" Seitensprünge
und "schlechte"? Ist z.B. ein Seitensprung mit einem Fremden,
wo es nur um Sex ging, ein "guter" und Sex mit jemanden, den
man auch als Mensch gern hat, ein "schlechter"?
: Eine solche Bewertung ist nicht hilfreich. Es gibt zwar
Paare, die sich einvernehmlich ein bestimmtes Maß an sexueller Freizügigkeit
zugestehen. Wenn beide Partner die vereinbarten Regeln respektieren,
kann eine solche Beziehung ungeachtet der gesundheitlichen Risiken im
Aids-Zeitalter sehr gut und befriedigend funktionieren. In einer offenen
Beziehung mag auch eine gemeinsame Freundin, ein gemeinsamer Freund
oder ein befreundetes Paar einvernehmlich zur sexuellen Bereicherung
beitragen. In allen anderen Fällen wird jede Art von Seitensprung als
ein tatsächlicher Treuebruch die Bindung jedoch nachhaltig in Frage
stellen. Für die meisten Menschen besteht Liebe heute in der Ausschließlichkeit,
den Partner nicht teilen zu müssen. Im Gegensatz zu diesem Anspruch
lassen die erotische Attraktivität und die sexuelle Aktivität in einer
Beziehung mit der Zeit oft nach. Zudem praktizieren die meisten Paare
entgegen dem Eindruck in manchen Medien eher schlichten Hausmannssex.
Je weniger ein Paar das unvermeidliche sexuelle Spannungsfeld zwischen
dem Innen und dem Außen wahrnimmt und gestaltet, in dem sich jede langfristige
Paarbeziehung bewegt, umso größer wird die Erschütterung sein, wenn
der Fall eingetreten ist, dass ein Partner entgegen der erwarteten Treue
und Ausschließlichkeit seiner "biologischen Steuerung" erlegen
ist. So kann allenfalls der Umgang mit dem Seitensprung in einer Weise
erfolgen, die für die Beziehung "gut" oder "schlecht"
ist.
Im Interview mit der "Welt am Sonntag" sprachen
Sie über die Wichtigkeit des Beichtens. Warum ist Beichten für das Fortführen
der bestehenden Partnerschaft so wichtig?
: Ein Seitensprung
verändert eine Beziehung gravierend. Für den, der ihn begangen hat,
ebenso wie für den, der hintergangen worden ist. Der eine weiß es, der
andere kann es zumeist spüren. So wenig wie ein Autoliebhaber bei seinem
besten Stück plötzliche Motoraussetzer ignorieren würde, so wenig sollte
ein Seitensprung übergangen werden. Das Geschehen signalisiert einen
ernsten Konflikt in der Partnerschaft, an dem zu arbeiten zwingend erfordert,
den Partner einzubeziehen. Dieser wird die Tragweite der Beziehungskrise
oft erst erkennen können, wenn ihm der Seitensprung offenbart wird.
Wird das aktuelle Geschehen und der zugrunde liegende Konflikt nicht
von beiden gemeinsam aufgearbeitet, kann die Beziehung langsam von innen
heraus zersetzt werden. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass eine
Paarbeziehung umso eher auseinander bricht, je häufiger Auseinandersetzungen
stattfinden. Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise wie konstruktiv
mit Fehlern und Konflikten umgegangen wird und wie unvermeidbare Verletzungen
durch Liebe und Leidenschaft ausgeglichen werden.
Ist es in
bestimmten Fällen nicht besser, einfach den Mund zu halten?
: Kaum. Auch wenn manche Ratgeber das Verschweigen bevorzugen
- ich empfehle respektvolle Offenheit statt Selbsttäuschung. Sex ist
ein natürliches Verlangen wie Essen oder Trinken, dessen Befriedigung
wir bedürfen und mit dem wir lernen können in sachgerechter und partnerschaftlicher
Weise umzugehen. Viele Probleme entstehen daraus, dass die Sexualität
und die Paarbeziehung idealisiert werden. Dies zu erkennen und ein realistisches
Beziehungskonzept zu erarbeiten, mag vorübergehend schmerzhaft sein,
ist aber für eine im Grundsatz tragfähige Beziehung immer ein Gewinn.
Natürlich kann es Konstellationen geben, in denen ein Partner durch
Krankheit oder Behinderung die sexuellen Bedürfnisse des anderen nicht
mehr zu befriedigen vermag. Wenn ein Partner den anderen pflegt und
gleichwohl Sex außerhalb dieser Beziehung praktiziert ist vorstellbar,
dass wechselseitiges Vertrauen und gegenseitige Achtung ein Paar zu
einem Arrangement führen kann, das Einvernehmen herstellt, ohne durch
Details zu belasten oder zu verletzen.
Wie können Paare den
Vertrauensbruch bewältigen?
: Eine Krise bedeutet
nicht das Ende der Beziehung. Auch der vermeintliche Traumpartner hat
nicht nur Stärken, sondern ebenso Schwächen. Die Probleme mit ihm wären
vielleicht nicht dieselben, aber gewiss andere. Jedes Paar besteht stets
aus zwei eigenständigen Menschen mit jeweils unterschiedlicher Lerngeschichte,
Weltsicht und Bedürfnislage. Das Paar kann die Krise nutzen, sich über
diese Schwächen auseinander zu setzen, ohne immer gleich verletzt, mit
Rückzug oder Verweigerung zu reagieren. Es ist wichtig, sich wechselseitig
so öffnen und betrachten zu lernen, dass jeder dem anderen helfen kann,
seine Schwächen zu überwinden. Das erfordert Mut, Offenheit, Geduld
und Einfühlungsvermögen in die Lage des anderen. Es ist unverzichtbar,
sich Zeit zu nehmen, sich wechselseitig zuzuhören. Keinesfalls hilfreich
sind Kritik, Abwertung und Rechtfertigung. Eine Schuldzuweisung bringt
nicht wirklich weiter. Ein Paar kann sich in dieser Situation sinnvoll
nur die Frage stellen: Was können wir aus dem Geschehen für die Zukunft
lernen? Dabei sind Aufrichtigkeit und Offenheit der Schlüssel zum Vertrauen
des Partners, der zu entscheiden hat, ob er den Vertrauensbruch verzeihen
kann. Insofern ist die Krise ein Prüfstein für die Lernfähigkeit der
Partner und den Wert der Beziehung. Oft sind sie später froh, um ihre
Beziehung gekämpft zu haben.
Die meisten Seitensprünge sind
nicht geplant, man gerät in eine Situation und muss sich entscheiden:
Soll ich oder soll ich nicht. Viele Menschen hätten sicher gern eine
Art Leitfaden. Gibt es Kriterien, wo man davon ausgehen kann, jetzt
und mit diesem Menschen ist ein Seitensprung eine ganz schlechte Idee?
: Ich halte jeden Seitensprung, der den Partner hintergeht,
für eine schlechte Idee. Vertrauen ist das Fundament und das kostbarste
Gut jeder Partnerschaft. Der kurze Gewinn an Lust und Illusion steht
zu den Risiken eines nicht mehr behebbaren Vertrauensverlustes in keiner
vernünftigen Relation. Zwar leben wir in einer Zeit, die Selbstverwirklichung
zur Tugend erhebt. Daraus resultiert für viele ein krankhafter Egoismus.
Selbstverwirklichung auf Kosten des Partners tötet aber auf Dauer jede
Beziehung und führt letztendlich zur Vereinsamung. Reife Menschen werden
die Verantwortung ihrem Partner gegenüber immer auch als Verantwortung
für sich selbst betrachten. Mit dem Sex ist es nicht anders als mit
den Kirschen in Nachbars Garten: Wenn man sie stiehlt, bekommt man Schrotkugeln
in den Hintern, wenn man darum bittet, bekommt man manchmal die schönsten
Kirschen geschenkt.
Welche Vermeidungsmöglichkeiten gibt es?
Allein die Tatsache, dass man für eine Partnerschaft auch Opfer bezüglich
des eigenen Egos - in diesem Fall: Sex mit jemand anderem - bringen
muss, hilft oft nicht wirklich.
: Ein Seitensprung
ist ebenso wenig völlig auszuschließen wie ein Verkehrsunfall, es sei
denn, man verzichtet völlig darauf, am Leben teilzunehmen. Die Statistik
belegt: Je weniger die Menschen miteinander sprechen und je mehr Freiheit
die Gesellschaft ihnen gibt, umso mehr Ehen gehen kaputt. Ob man es
als Opfer oder als Gewinn für das eigene Ego empfindet, von dem Risiko
frei zu sein, mit ständig wechselnden Sexualpartnern verkehren zu müssen,
ist eine Frage der persönlichen Reife und Werte-Definition. Gesellschaftliche
Freiheit beinhaltet daher, sich selbst begrenzen zu lernen. Ein guter
Weg besteht darin, am Anfang einer Partnerschaft auch für diese Situation
realistische Vereinbarungen zu treffen. Einen besseren Weg der Prävention
stellt die unermüdliche Pflege der eigenen Paarbeziehung dar. Menschen
in einer glücklichen Beziehung sind in der Regel für einen Seitensprung
deutlich weniger anfällig. Ich empfehle meinen Klienten, ihrem Partner
dieselbe Aufmerksamkeit und Hingabe zu widmen, die sie sich in Bezug
auf ihre Person wünschen. Wer sich deutlich mehr Zeit für seinen Partner
nimmt als die zehn Minuten, die verheiratete Paare nach statistischen
Befunden durchschnittlich miteinander sprechen, und auf das gemeinsame
Beziehungskonto immer ein wenig mehr einzahlt als er entnimmt, der wird
seine Beziehung lange am Leben erhalten.
Kann Seitenspringen
auch positiv sein?
: Ist der Seitensprung geschehen,
so kann er für beide Partner bei der Bewältigung zu einer großen Herausforderung
werden. Er wird die Beziehung erschüttern, aber diese Erschütterung
kann eine neue Qualität hervorbringen. Man darf nicht vergessen: Auch
bei der Vervollkommnung ihrer Paarbeziehung bleiben zwei Partner lebenslang
Lernende. So kann ein Seitensprung zum Salz in der Suppe eines reifenden
Paares werden.